Entgrenzt gedacht



Ein schier grenzenloses Thema, die Grenzen – begrenzt nur durch die vorgegebene, maximale Zeichenzahl. Die wurde zwar nicht bös- aber mutwillig etwas erhöht, in dem die Grenzen des Layouts, Satzspiegel genannt, auf das Maximum ausgedehnt und die Ränder weitgehend eliminiert wurden. Doch man sieht schnell: wo die eine Grenze überschritten, übergangen oder ignoriert, vielleicht sogar überlistet wurde – es hilft nicht viel, denn die nächste wartet schon. Irgendwie hat eben alles ein Ende, eine Grenze, seine Limits. Und das dürfte auch gut so sein.

LÄNDER, GÄRTEN, KATZENJAGD

Der erste Gedanke bei Grenzen sind physische: Länder, Grundstücke und Mauern. Wenn ein Hund eine Katze durch die Nachbarschaft jagt, einigermaßen mühelos Einfriedungen, Hecken und Gärten dabei überwindet und damit einmal kurz die uns eigene menschliche Perspektive verlässt, wird einem klar, was diese Grundstücksgrenzen eigentlich sind: Nichts Reales, nicht von zwingender Relevanz. Ich Hund, da Katze, dazwischen Erde. Grenze ist das Gegenteil von a priori. Die Willkür von Grenzziehungen wird auf nationaler Ebene bei einigen Staaten in den USA oder ähnlich auf dem afrikanischen Kontinent offensichtlich: Wenn da nichts mäandert und munter dahinkurvt, sondern bolzengerade, mit dem Lineal gezogene Linien Land und Leute teilen. An sich ist es ja ohnehin schon eine bemerkenswerte Leistung, bei einer mit atemberaubender Geschwindigkeit frei durch’s unendliche Weltall schwebenden Kugel Nord und Süd und Ost und West zu definieren. Oben und unten. Wer etwas mehr Geduld aufbringt, sieht auch: Nicht nur Grenzen verschieben sich, sondern sogar ganze Kontinente! Die ja erst solche sind, seit wir sie so nennen. Das Inbesitznehmen beginnt in der Tat mit der Benennung, dem »etwas-einen-Namen-geben«, dem Abgrenzen. Der Claim ist eine Fläche gewordene Behauptung.

DER ZWECK HEILIGT DIE GRENZE

Was alles in letzter Konsequenz zu entgrenztem Wirtschaften führte, in eine Globalisierung, die ja nichts anderes bedeutet, als zum einen, sich von keinen Grenzen bremsen zu lassen, als auch den ganzen Globus bis in die letzte Ecke zu nutzen. Man könnte auch sagen, leider treffend, zu nutzen und zu »verbrauchen«. Und doch propagierte man einst mit viel Echo »Die Grenzen des Wachstums« – der Club of Rome tat das, vor recht genau 50 Jahren. Aber was geschah in der Zwischenzeit? Noch mehr Wachstum! Quasi, Stoibers

Kompetenzkompetenz aufgreifend, Wachstumswachstum – dem, so ja tatsächlich bezeichneten Zinseszins nicht unähnlich beziehungsweise in direkter, kausaler Verbindung dazu stehend. Genau das fällt uns gerade vor die Füße, oder schmerzhaft auf sie. Dass Maßlosigkeit (und Gier und Neid, alle ja direkt verwandt und verschwägert) eine Todsünde ist, hat sich aus der Religion nicht in die Betriebswirtschaftslehre übertragen – da ist Stillstand Rückschritt, ein nicht viel mehr ein viel zu wenig. Gefeiert wird der Erfolgreiche, der Zweck heiligt die Mittel, der Erfolg gibt einem recht. Und wo gehobelt wird, fallen Späne. Absolution erteilt die Rendite, keine Obergrenze in Sicht. Immerhin der Mensch selbst hat seine Grenzen, auch wenn er sie nicht immer kennen oder akzeptieren will. Und schon gar nicht mag, erst recht, wenn ihm einer sagt, was er essen soll oder wie schnell er fahren darf. Witzig ist, dass es zumindest naturbedingte Grenzen gibt, so beispielsweise beim menschlichen Größenwachstum (nicht Größenwahnsinn) – das ja seit Jahrhunderten stetig steigt. Doch es gibt eine gewisse biologisch vorgegebene Limitierung, mit deren Überschreiten eben weder individuell noch evolutionär ein Gewinn verbunden wäre, im Gegenteil. Wird ein Mensch, das sagen vorsichtige wissenschaftliche Schätzungen, größer als 2,75 Meter, funktioniert körperlich immer weniger. Seine eigene Last wird für die Knochen zu groß, das Blut muss zu weit beziehungsweise zu hoch gepumpt werden, das enorme Blutvolumen überlastet den Kreislauf und so weiter und so fort. Genauso, wie ein ewiges Leben ganz schön bedrohlich wirkt, ist es die unendliche Größe

WENIGER GEHT IMMER SCHWER

Im umgekehrten Sinn gibt es das auch, beispielsweise beim Verbrauch eines Verbrennungsmotors. Hier gibt es gleichfalls Grenzen, Grenzbereiche, die zu unterschreiten kaum möglich sind. Oder mit einem Aufwand, der völlig unverhältnismäßig ist – hat man vor zwanzig, dreißig Jahren noch mit etwas Forschung den Verbrauch von 9 auf 8 Liter pro 100 Kilometer verringern können, braucht es heute den vielfachen Aufwand, um nur von 5,3 auf 5,2 Liter zu kommen. Dazu hat man, so eine von mehreren Strategien, den Hubraum immer weiter reduziert, ebenso die Anzahl der Zylinder. Ein 330er BMW hat eben nicht mehr, wie vor zehn Jahren, knapp 3.000 cbm Hubraum, sondern nur mehr zwei Drittel. Und auch statt sechs mittlerweile vier Zylinder – das alles aber mit mehr Leistung! Und verbrennt noch immer Benzin und Diesel. Was den Verbrauch angeht, müsste man also den Motor neu denken, wirklich neu, von Grund auf, nicht sich extrapolierend weiterhangeln. Und das scheint aktuell einiges zu betreffen, weit über das Auto hinaus. Packt man in das jetzt einen Elektromotor anstelle des Verbrenners und belässt alles andere wie gehabt, wird sich das gleiche Spiel jetzt wiederholen, nur eben mit der Einheit »kW«.

NAGELBRETT ALS MOTIVATION

Grenzen also allerorten, rauf und runter, beim, am, im und um den Menschen. Besonders anspruchsvolle, da nicht sichtbar, sind die mentalen – deren Königsdisziplin wäre dabei ihre Ausdehnung bis hin zur Aufhebung von Gesetzen (man könnte auch sagen Grenzen), beispielsweise der handfesten Naturwissenschaften. Der indische Yogi, der meditierend über dem Boden schwebt, ist ein schönes Bild dafür. Womöglich ist es der gleiche, der noch zuvor auf dem ebenso ikonografischen Nagelbrett saß und womöglich genau daraus seine Motivation zum Schweben zog. Grenzen und Motivation sind ohnehin ein antagonistisches, komplementäres Paar. Disziplin, Ausdauer, Wille trennen den Hobby vom Hochleistungssportler, den Amateur vom Profi – und natürlich so manches pragmatisch-banale mehr, wie beispielsweise die nicht unbedeutende Tatsache, dass jener sonst keinem Tagesgeschäft mehr nachgehen muss. Was manchen freilich nicht davon abhält, seine mentalen und körperlichen Grenzen ausweitend zu umgehen und sich mit Doping illegal auf die Sprünge zu helfen.

WO IST DEINE WAHRE GRÖSSE?

Seine individuellen Grenzen zu überwinden, das offerieren auch zahlreiche Reise- und Eventveranstalter, Coaches und »Selbstentwickler«. Das Internet ist voll von »instahelp«, »Meet your Master« und »Management-circles«: Denke größer, finde Deine Bestimmung, was steht zwischen Dir und Deiner wahren Größe, hole Dir den Erfolg, der Dir zusteht! Um voranzukommen braucht es Dinge, für die es vor dreißig Jahren noch gar keine Begriffe gab – ein Mindset und eine Positionierung beispielsweise, selbstredend muss man seine »Komfortzone« dafür verlassen. So einfach vor sich hinzuleben ist eine Verschwendung an göttlichem Potenzial. Grenzen sind da, um überwunden zu werden, Mensch! Deshalb helfen die vielen Haudegen mit ihren wetterzerfurchten, authentischen Gesichtern und lebenserfahrenen Bärten einem mit ihren Web-Blogs, Seminaren und Newsletter-Abos aus der Tristesse. Angst zu haben ist wirklich etwas für Feiglinge. Gut, dass die nach oben offene Skala der Komplexbewältigung sich zumindest im automobilen Angebot unmittelbar ermöglicht, vom City- zum richtigen LKW-haften SUV, den Pick-ups hinauf bis zum HAMMER. Wer will da noch Grenzen sehen oder gar akzeptieren? Ein Kasperltheater, über das man lachen könnte, wäre es nicht ein handfester Beitrag zu Klimawandel und – nicht zu unterschätzen – semantischer Umweltverschmutzung. Selbst ein Virus musste einsehen, dass es nicht so schlau ist, seinen Wirt umzubringen. Das hat der Mensch erst noch zu lernen. Wer pro Jahr gewissermaßen zwei Erden verbraucht (was die Regenerationsfähigkeit etcetera anbelangt) hat als Spezies den Weg von »Delta« zu »Omikron« selbst noch vor sich.

DER CHIP IM HIRN ERSETZT DAS DENKEN – TOLL!

Ganz andere Grenzen müssten aus Sicht einer selbsternannten Top-Elite verschwimmen, um die Menschheit zukunftsfähig zu machen. Tech-Milliardäre wie ein Elon Musk sind Motor eines Transhumanismus, der das Beste aus beiden Welten vereinen will – von Technik und Natur. Die Phantasien im Silicon Valley gehen soweit, dass durch die Mensch-Maschinen-Evolution alle denkbaren Grenzen aufgehoben werden: wir werden nicht mehr altern und auch nicht sterben, können unser Bewusstsein beliebig erweitern und auf der ganzen Welt in mehreren Körpern präsent sein. Man könnte das auch als Drohung empfinden! Und das alles, während wir – sehenden Auges – nicht in der Lage sind, soziale Gerechtigkeit herzustellen, Energie ohne klimaschädliche Folgen zu produzieren und allen Menschen wenigstens ein Mindestmaß an Nahrung, Medizin und Bildung zu bieten. Von Selbstverwirklichung ganz zu schweigen, die von den in allen Medien (warum auch immer) omnipräsenten Privatiers. Vielleicht steht in einhundert Jahren deshalb neben den fundamentalen Menschenrechten auch in den Verfassungen: Der Mensch hat nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch auf deren Grenzen und Endlichkeit: es ist ihm deshalb auch erlaubt, Fehler und Irrtümer zu begehen, die trotz KI-Prognose vermeidbar sind. Und eben nicht vorher ein Computer das stoppt und verhindert. Durch »Unfälle« kam beispielsweise das Penicillin in die Welt, nicht durch Errechnung, nur so am Rande.

WELCHES ICH MEINEN SIE GERADE?

Was alleine das Smartphone schon an psychischen und sozialen Kollateralschäden verursacht hat, weil es eine ganze Reihe von Grenzen auflöst(e), sollte zu denken geben und nicht blauäugig. Die Dauerverfügbarkeit von allem an jedem Ort zu jeder Zeit führt schon jetzt dazu, dass man sich nicht mehr alles merken muss, rechtzeitig erinnert wird, Übersehenes nachgeholt werden kann … und Langeweile wird gerade ohnehin ausgerottet (WLAN vorausgesetzt). Die daraus entstehende Abhängigkeit kann dann natürlich auch so interpretiert werden, dass man sagt: eben deshalb sind diese Geräte ja so wichtig, weil sonst nichts mehr klappt! Welch unbeabsichtigte (vermutlich zumindest) Folgen über social media-Portale entstanden sind, macht das Gefühl ständiger Erreichbarkeit von MitarbeiterInnen beinahe zur Lappalie: wenn das Selbstbild von Jugendlichen so angegriffen wird, dass sie zwischen dem Sein (real, körperlich) und Schein (bearbeitete Bilder, online) kaum mehr unterscheiden können. Dass zum Googeln das Posten und die Instragamability (und mit der die touristische Zerstörung besonders schöner Plätze) kamen ist eines, dass aber ein Wort wie »Haten« enstand, gibt zu denken. Grenzen der Höflichkeit, des Anstands, des Respekts – weggewischt und durchgescrollt. Von den Möglichkeiten der Überwachung von Staaten und Konzernen ganz zu schweigen – nicht nur in China, mit Gesichtserkennung, social scoring etc. werden gerade einige fundamentale Grenzen nach und nach eingerissen. Die der Selbstbestimmung, der Freiheit im Denken und Handeln, oder ganz einfach: im machen können, ohne dass irgendwer live dabei ist.

KUNST LÄSST SICH NICHT ERRECHNEN

Während man also die falschen, eigentlich beliebigen, nationalen Grenzen gerne sogar mit Waffen verteidigt, reißt man die wichtigen, sinnvollen nach und nach ein. Eine solche – und eben nicht unnatürliche – Grenze (der pandemiebedingte größere Abstand an Supermarkt-Kassen war so unangenehm ja nicht!) wird der eigene Körper sein. Wenn also Sergey Brin, einer der Gründer von Google, meint, sein Unternehmen möchte »die dritte Hälfte« des Gehirns werden, stellt sich schon die Frage, ob man da nicht dankend ablehnt. Und nicht denkt, was andere Kunden auch gedacht haben. Nein, Originalität, Originäres, Kreatives, wird weiterhin aus dem Menschen selbst kommen müssen. Gott sei Dank! Das »Outsourcing« des (zwangsläufig immer projizierenden, fortführenden) Denkens, der Intelligenz auf Rechenmaschinen, denen ethisches Verhalten nochmals fremder ist als manch übermächtigem Menschen, mag sich als Bumerang erweisen, der vielleicht mit Wucht auf den Hinterkopf treffen wird. Wer Grenzen überschreiten will, wird gleichermaßen auf und in sie verwiesen. Das mag man schlimm finden – oder froh darüber sein, vor sich selbst geschützt zu werden. Die Grenze der Lesbarkeitsdauer könnte gerade überschritten werden …